gerädert
gerädert: (wie) gerädert (fühlen, aussteigen, starten…)
Umschreibung: todmüde, erschöpft sein, sich zerschlagen fühlen [eWDG: rädern]
Analyse der Bedeutung: Das Neutrum ‚Rad‘ (‚ein kreisrundes Teil, das sich um seinen Mittelpunkt dreht‘) ist zunächst auf den kontinentalwestgermanischen Raum beschränkt und wird im Ahd. als rad (8. Jh.), im Mhd. als rat, im Asächs. unter rað, im Mnd. sowie Mnl. als rat, im Nl. als rad, im Afries. als reth sowie rad (germ. *raþa-) wiedergegeben. Analog dazu sind aengl. rodor bzw. rador im Sinne von ‚Äther, Himmel‘ sowie anord. rǫðull (‚Strahlenkreuz, Sonne‘) zu sehen. Als verwandt gelten u. a. air. roth, kymr. rhod (‚Rad‘) sowie lat. rota (‚Rad‘) und rotula, rotulus (‚Rädchen‘). Die aind. Form ráthaḥ bezieht sich dabei auf einen ‚Wagen‘ oder ‚zweirädrigen Streitwagen‘. Allesamt gehen sie wohl von der ie. Wurzel *ret(h)- (‚laufen, rollen’) aus. Die Verbalform ‚rädern‘ bedeutete während der Zeit des Mittelalters im ursprünglichen Sinne ‚jmdn. durch das Rad hinrichten, aufs Rad flechten‘ und wurde als mhd. rederen realisiert. [Vgl. WPE: Rad].
Der bildhafte Ausdruck gerädert geht auf die strafrechtliche Praxis des Räderns zurück, wodurch die verurteilte Person hingerichtet wurde. [Vgl. WPE: Rad]. Diese Art der Hinrichtung ist bereits unter den Germanen bekannt und wurde bis ins 18. Jh. praktiziert. Gerädert wurden ausschließlich Männer, die sich des Mordes oder eines Majestätsverbrechens schuldig gemacht hatten. Bei dieser höchst ehrlosen Todesstrafe wurde der Körper des Delinquenten am Boden fixiert, indem seine Arme und Beine in ausgestreckter Haltung an Pflöcken befestigt wurden. Als nächster Schritt folgte das Unterlegen von Hölzern, danach fasste der Henker das Richtrad und ließ es je nach Vorschrift in unterschiedlichster Abfolge und Häufigkeit auf Abschnitte des Körpers fallen. War der Hals für den ersten Stoß vorgesehen, galt dies aufgrund des rasch eintretenden Todes als Gnadenerweis (vgl. ↑der Gnadenstoß (für jmdn./etw.) sein, ↑jmdm./etw. den Gnadenstoß (ver-)setzen/geben…). Wurde der Übeltäter zuvor durch den Galgen, das Schwert oder einen Herzstoß hingerichtet, war er ebenfalls begnadigt worden. Im Anschluss an die Prozedur wurde der (beinah) Tote auf das Rad, das für jede Hinrichtung eigens anzufertigen war und neun bis zehn Speichen aufweisen musste, geflochten und entweder auf einen Pfosten gesteckt oder auf den Galgen gesetzt, was für den sog. ‚schimpflichen‘ Charakter der Strafform spricht. Im Sinne einer Kumulation, wo mehrere Strafen zusammen angewandt wurden, konnte der gefesselte Delinquent zunächst durch verordnetes ‚Schleifen‘ auf einer Unterlage aus Holz oder Tierhaut vom Pferd zur Hinrichtungsstätte gezogen werden. Zusätzlich dazu konnte der Gemarterte auf seinem Weg mit glühenden Zangen gekniffen werden, was als Form der Strafverschärfung zu sehen ist. [Vgl. Ortner 2017, S. 36].
Agiert oder fühlt eine Person sich gerädert wird vor dem realhistorischen Kontext der Hinrichtungsform mit dem Rad ausgedrückt, dass man sich analog zu der zum Tode verurteilten Person in einem Erschöpfungszustand, meist physischer Art, befindet, der bis in die Knochen spürbar ist. [GG] - Entstehungszeit: 18. Jh. (wie gerädert sein) [KUE I: gerädert] -
Realienkundliches: Im Zuge von drei archäologischen Grabungen im Zeitraum 2012–2014, die im Areal der Richtstätte Birkachwald/Unterzeiring durchgeführt worden sind, wurde u. a. ein Skelett geborgen, das deutliche Spuren der Räderung aufweist. Der Auszug aus dem anthropologischem Befund von Silvia Renhart lautet wie folgt:
„Bei den stark abgemürbten/verwitterten Knochenresten mit der Bezeichnung „Birkachwald - Objekt 17" handelt es sich um das beinahe vollständige Skelett eines zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr zu Tode gekommenen Mannes. Er war zu Lebzeiten mit 170,8 cm groß gewachsen und von sehr robuster und kräftiger Erscheinung […] Am Auffälligsten ist, dass alle Langknochen gebrochen sind. Dabei handelt es sich nicht um nach dem Tod entstandene - sog. postmortale - Schäden. Diese schweren Verletzungen wurden dem um das ca. 30. Lebensjahr verstorbenen Mann kurz vor seinem Tod im Zuge einer Folterung zugefügt. So sind die Langknochen jeweils knapp unter bzw. über der Schaftmitte durchschlagen. Zugleich muss aber auch eine Verdrehung der Knochen stattgefunden haben, da sog. Spiralbrüche festzustellen sind. Diese Torsionstraumen lassen auf eine Fixierung schließen, die bei gleichzeitiger Verdrehung und Dehnung der Gliedmaßen diese charakteristischen Bruchspuren verursachte. Insgesamt weisen die Bruchenden in Form und Ausprägung (relativ exakte Brüche mit mittelmäßiger Splitterung) auf einen schweren Gegenstand hin, der mit großer Wucht von oben herab geführt wurde […] All diese Verletzungsspuren weisen auf das „Rädern" hin. [Renhart 2015, 74–78]
In Fällen von Vergiftung oder anderen heimlichen Morden legt die Steirische Landgerichtsordnung von 1574 fest, dass delinquente Männer gerädert werden sollen, Mörderinnen hingegen mit einer anderen Art der Todesstrafe wie dem Ertränken gerichtet werden sollen. Bei Delinquentinnen kann je nach Schweregrad der Tat oder richterlichem Entscheid über das Schleifen oder Zwicken durch Zangen eine Strafverschärfung angeordnet werden:
XCV.
Von ſtraff der vergifftung oder dergleichen haimlichen Toͤdtung.
ITem wer jemandt durch Gifft oder dergleichen haimlichen vergebung an Leib oder Leben beſchedigt / Iſt es ein Manns perſon / der ſoll einem fürgeſetzten Moͤrder gleich mit dem Rad / aber ein Weibsbild mit dem ertrencken / oder in ander weg nach gelegenhait vom Leben zum Todt gericht / auch vor der endtlichen Tods ſtraff geſchlaifft / oder etlich griff mit gluͤenden zangen / in jre Leib / vil oder wenig nach ermeſſung vnd anſehen der perſon vñ vbelthat gegeben werden. [Erzherzog Karl II. von Österreich 1583, XCV]
Diastratik: umgangssprachlich [DUO: gerädert] - Semantische Prozesse: sprichwörtliche Redensart (je nach Kombination) - Interlingual Kompatibles: kroat.: osjećati se kao isprebijan [PONS]; nl.: geradbraakt [PONS]; span.: estar molido (-a) [PONS] - Figuriertheit: Hyperbel; Drastik - Querverweis: ↑geschundene/-er/-es (Seele, Chef, Land…)
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