Jahr und Tag
Jahr und Tag: nach/seit/über/vor Jahr und Tag
Umschreibung: nach/seit/vor einem bzw. über einen undenklich langen Zeitraum [GG]
Analyse der Bedeutung: Das Neutrum ‚Jahr‘ lautet im Ahd. und Mhd. jār, im Asächs. jār oder gēr, im Mnd. jār, im Mnl. jaer, im Nl. jaar, im Aengl. gēr bzw. gēar, im Engl. year, im Anord. ār, im Schwed. år und im Got. jēr. Über die außergermanischen Verbindungen mit awest. yār-, griech. hṓra (ὥρα) (‚Jahreszeit, Tageszeit, Stunde’) bzw. hṓros (ὧρος) (‚Zeit, Jahr’), lat. hōrnus (‚diesjährig’), aruss. jarъ (‚Frühlings-, Sommer-’), russ.-kslaw. jara (‚Frühling’), russ. jar’ (ярь) (‚Sommerkorn’) wird als Ausgangspunkt ie. *i̯ēro-, *i̯ōro- (‚Jahr, Sommer’) bzw. die ie. Wurzel *ei- (‚gehen’) postuliert. [Vgl. WPE: Jahr].
Das Maskulinum ‚Tag‘ hingegen wird im Ahd. als tag und im Mhd. über die Formen tac und tag mit dem Bedeutungsspektrum von (‚Tag, Tageszeit, Zeit, Gerichtstag, Gericht, Jüngstes Gericht, Frist, Termin, Aufschub, Waffenstillstand, höheres Alter, Mannbarkeit, Volljährigkeit, Lebensalter, Leben’) realisiert. Weitere Formen des germ. Sprachraumes lauten asächs. und nl. dag, mnd. und mnl. dach, aengl. dæg, engl. day, anord. dagr, schwed. dag und got. dags. Was die nähere Herkunft betrifft, könnte auf ie. *ā̌g̑her-, *ā̌g̑hen-, *ā̌g̑hes- (‚Tag’) oder die ie. Wurzel *dhegu̯h- (‚brennen’) geschlossen werden. Wie die Bezeichnungen ‚Landtag‘, ‚Reichstag‘, ‚Gerichtstag‘, ‚Ratstag‘ oder ‚tagen‘ und ‚vertagen‘ erkennen lassen, hat sich die mhd. rechtliche Bedeutung in ihnen erhalten. [Vgl. WPE: Tag].
Die Paarformel ‚Jahr und Tag‘ weist ihren Ursprung im mittelalterlichen Rechtswesen auf, wo sie als weit verbreitete Rechtsformel eine festgelegte Zeitdauer beschrieb, die regional variierte. Zum genauen Zeitraum, den sie umfasste, liegen unterschiedliche Thesen vor, wobei die jüngste die Dauer von einem Jahr sechs Wochen und drei Tagen vertritt. Diese sei durch das Ordentliche Landgericht ab Karl d. Großem motiviert, da dieses in einem zeitlichen Abstand von sechs Wochen abgehalten wurde und für drei Tage angesetzt war. Den übrigen Thesen zufolge umfasse die Angabe ‚Jahr und Tag‘ erstens ‚ein Jahr plus einen Tag‘, zweitens eine Spannweite zwischen ‚einem Jahr und einem Tag‘ und ‚einem Jahr sechs Wochen und drei Tagen‘ oder drittens ‚365 Tage‘. Die Frist ist bspw. beim Besitzübergang oder im Rahmen der Acht belegt. [Vgl. ROE: Jahr; vgl. HRG-SD: Jahr und Tag].
Nimmt man die Wendung wörtlich, entsteht aufgrund der Tatsache, dass ein Jahr bereits eine relativ lange Dauer umfasst, und noch ein Tag hinzugerechnet wird, der Eindruck einer gefühlt ewigen Zeitspanne, wodurch die übertragene Bedeutung motiviert sein könnte. [GG] -
Realienkundliches: In Der Oberhof Iglau in Mähren und seine Schöffensprüche aus dem 13. - 16. Jahrhundert (1868) befindet sich unter den gesammelten Einträgen einer des 14. Jhs., der sich der Gültigkeit von Testamenten widmet. Innerhalb der Frist von ‚einem Jahr und einem Tag‘ besteht die Möglichkeit des Widerrufens:
62. De eodem (wye gescheffte crafft sullen haben).
Das ist hie getailt czu eynem rechten, nachdem das der Rothphragner gehens endes starb, vnd seyn hausfraw vnd seyne kynder mit eynander vm das gut krygen worden. Beschayt ein man mit vornunft vnd mit wiczen seyn guet vor erbern lewten, her sey sich oder gesunt, dasselbe gescheft hat kraft jar und tag, es sey danne, das her es widerruff. Dasselb word awch getailt, do Heynrich der Payir pey der pharre seyn gut beschyed mit gesuntem leyb, vnd auf den gotes weg czoch, vnd darnach her wider quam, vnd dasselbe gescheft nicht widerrufte, vnd in demselben Jar gehling starb. [Tomaschek 1970, S. 71]
Semantische Prozesse: phraseologisiert; Zwillingsformel (Jahr und Tag) - Interlingual Kompatibles: frz.: depuis des lustres [PONS]; nl.: sinds jaar en dag [PONS]; slowen.: čez leto in dan [PONS] - Figuriertheit: Hyperbel
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