Kürzeren
Kürzeren: den Kürzeren ziehen
Umschreibung: benachteiligt werden, unterliegen [DUR: kurz]; verlieren [vgl. eWDG: kurz]; aufgrund einer ungleichen Ausgangslage bei einer Auseinandersetzung, einem Streit o. Ä. die/der Unterlegene sein [DUO: kurz; GG]
Analyse der Bedeutung: Das Adjektiv ‚kurz‘ (im Ahd. und Mhd. gleichlautend) in seiner Bedeutung ‚von geringer Ausdehnung in Länge oder Zeit‘ ist eine Entlehnung aus dem lat. curtus (‚verkürzt, gestutzt, verstümmelt‘), welches wiederum eine Partizipialbildung aus der ie. Wurzel *(s)ker(ə)- (‚schneiden’) darstellt. Das im Ahd. ebenso geläufige kurt ist hingegen entweder unverschoben oder eine Neuentlehnung. Die Wendung den Kürzeren ziehen im Sinne von ‚im Nachteil sein, verlieren‘, ursprünglich ‚beim Losen das kürzere Stäbchen ziehen und damit verlieren‘ bedeutend, ist ab dem 16. Jh. belegbar und war im Rahmen des Gottesurteils als Los-Urteil ab dem Altertum geläufig. [Vgl. WPE: kurz; vgl. DUR: kurz; vgl. LDR: Kürzeren].
Das Losen konnte erstens mit dem Werfen von Würfeln oder Steinen, zweitens dem Zählen von Knoten an Gras- oder Strohhalmen sowie drittens über das Ziehen von Halmen, Stäbchen oder Streifen erfolgen. Während das Abzählen von Halmknoten vor allem im Rahmen des Losorakels zur Bestimmung der Zukunft Verwendung fand, spielt für die Redewendung den Kürzeren ziehen insbesondere der Brauch des Ziehens von Grashalmen – im Mhd. daz gräselin ziehen genannt – die ausschlaggebende Rolle, wobei diejenige Partei, die wortwörtlich den kürzeren Halm zieht, den Rechtsstreit verliert. [Vgl. ROE: kurz]. - Entstehungszeit: 16. Jh. [WPE: kurz; LDR: Kürzeren] -
Realienkundliches: Geschilderte Praxis des Gräslein-Ziehens, um eine Sachlage zu entscheiden:
Ziehen wir zwei gräselin
Ane allen falschen wank,
Das eine kurz, das ander lang;
Weders ouch immer mag ziehen an,
Das länger soll gewunnen han. (Josef v. Laßbergs ‚Liedersaal‘ Bd. I, 1820-25, S. 145) [nach ROE: kurz]
Belegtes Zählen von Halmknoten im Rahmen des ‚Losorakels‘:
Mich hât ein halm gemachet frô.
ich wæne, ich sül genâde vinden:
swie dicke ich maz daz selbe strô,
als ich gewon was her von kinden
(Walther: Lieder und Sangsprüche (WVV), Tonvariation 2, Kapitel 1, Lied 42, Stanza 1, Zeile 1–4) [Mhdbdb: halm]
Rechtlich verankertes Losen bzw. Halmziehen:
so ain land wie obsteet ledig wirdt und mehr denn ainer darnah stelt, so sollent sie mitainander lössen oder die helm ziehen, (1570 WürtLändlRQ. II 417) [DRW-WA: Halm II 1]
Auszug aus der Lex Frisionum zur Veranschaulichung der rechtlichen Verankerung des Losordals mittels Kennzeichnung und Ziehen von Stäbchen:
§1 Si homo quislibet in seditione ac turba populi fuerit interfectus, nec homicidia poterit inveniri propter multitudinem eorum qui aderant, licet ei qui compositionem ipsius quęrere vult de homicidio usque ad septem homines interpellare et unicuique eorum crimen homicidii obiicere, et debet unusquisque eorum sua duodecima manu obiecti criminis se purificare sacramento. Tunc ducendi sunt ad basilicam et sortes super altare mittendae, vel si iuxta ecclesiam fieri non potuerit, super reliquias sanctorum. Quae sortes tales esse debent: duo tali de virga praecisi, quos tenos vocant, quorum unus signo crucis innotatur, alius purus dimittitur, et lana munda obvoluti super altare seu reliquias mittuntur; et pręsbyter si adfuerit, vel si pręsbyter deest puer quilibet innocens, unum de ipsis sortibus de altari tollere debet; et interim deus exorandus, si illi septem, qui de homicidio commisso iuraverunt, verum iurassent, evidenti signo ostendat. Si illum qui cruce signatus est sustulerit, innocentes erunt qui iuraverunt; sin vero alterum sustulit, tunc unusquisque illorum septem faciat suam sortem, id est tenum, de virga et signet signo suo, ut eum tam ille quam cęteri qui circunstant cognoscere possint; et obvolvantur lana munda et altari seu reliquiis imponantur; et pręsbyter si adfuerit, si vero non ut superius puer innocens, unumquemque eorum singillatim de altari tollat et ei qui suam sortem esse cognoverit rogat. Cuius sortem extremam esse contigerit, ille homicidii compositionem persolvere cogatur, cęteris quorum sortes prius levatae sunt absolutis.
§2 Si autem in prima duarum sortium missione illam que crucis signo notata est sustulerit, innocentes erunt, sicut praediximus, septem qui iuraverunt, et ille, si velit, alios de eodem homicidio interpellet; et quicunque interpellatus fuerit, sua duodecima mano perfectorio sacramento se debet excusare; et in hoc interpellatori sufficiat, nec ulterius ad sortem quemlibet compellere potest. Haec lex inter Laubachi ac Flehum custoditur.
[Eckhardt 1982, Tit. XIIII, S. 56]
§1 Wenn irgendein Mann bei einem Aufruhr und Volksauflauf umgebracht wird und der Totschläger wegen der Menge derer, die dabei waren, nicht gefunden werden kann, ist es dem, der Buße für ebendiesen fordern will, erlaubt, wegen des Totschlags bis zu sieben Männern zu belangen und einem jeden von ihnen das Verbrechen des Totschlags vorzuwerfen, und ein jeder von ihnen mu[ss] sich selbzwölfter Hand durch Eid von dem vorgeworfenen Verbrechen reinigen. Dann sind sie zur Basilika zu führen und Lose auf den Altar zu legen oder, wenn es nicht bei einer Kirche geschehen kann, auf die Reliquien der Heiligen. Diese Lose müssen solche sein: zwei vom Zweig geschnittene Stächen, die sie Reiser nennen, von denen eines mit dem Zeichen des Kreuzes gekennzeichnet wird, das andere leer gelassen wird und sie werden mit sauberer Wolle umwickelt auf den Altar oder die Reliquien gelegt; und der Prieser, wenn er dabei ist, oder, wenn der Priester fort ist, irgendein unschuldiger Knabe mu[ss] eines von ebendiesen Losen vom Altar wegnehmen; und inzwischen werde Gott angefleht, er möge durch ein offensichtliches Zeichen zeigen, ob jene sieben, die wegen des begangenen Totschlags schworen, wahr geschworen haben. Wenn er jenes, das mit dem Kreuz gezeichnet ist, wegnimmt, sind die schuldig, die geschworen haben; wenn er aber das andere wegnimmt dann stelle ein jeder von jenen sieben sein Los her, d. h. ein Reis, von einem Zweige und zeichne es mit seinem Zeichen, da[ss] es sowohl er wie die übrigen, die herumstehen, erkennen können; und sie sollen mit sauberer Wolle umwickelt und auf den Altar oder die Reliquie gelegt werden; und der Priester, wenn er dabei ist, wenn aber nicht, wie oben ein unschuldiger Knabe nehme ein jedes von ihnen einzeln vom Altar weg und frage nach dem, der erkennt, da[ss] es sein Los ist. Wessen Los es trifft, das letzte zu sein, der werde gezwungen, die Buße für den Totschlag auszuzahlen, unter Lossprechung der übrigen, deren Lose vorher aufgenommen sind.
§2 Wenn er aber beim ersten Legen der zwei Lose jenes wegnimmt, das mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnet ist, sind die sieben, die geschworen haben, wie wir zuvor sagten, unschuldig, und jener belange, wenn er will, andere wegen desselben Totschlags; und wer immer auch belangt wird, muss sich durch einen mit selbzwölfter Hand zu vollendenden Eid entschuldigen; und damit sei dem Belanger genügt, und er kann nicht weiterhin irgendwen zum Los nötigen. Dieses Gesetz wird <in Mittelfriesland> zwischen Lauwers und Fli beachtet.
[Eckhardt 1982, Tit. XIIII, S. 57]
Diastratik: umgangssprachlich [DUR: kurz] - Semantische Prozesse: sprichwörtliche Redensart - Interlingual Kompatibles: engl.: to draw [or get] the short straw [PONS]; nl.: aan het kortste eind trekken [PONS]; schwed.: dra det kortaste strået [PONS] - Figuriertheit: Hyperbel
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