lebendig begraben
lebendig begraben: (sich) (wie) lebendig begraben (fühlen) / wie lebendig begraben sein
Umschreibung: wie abgeschnitten von aller Welt [eWDG]; sich eingesperrt, isoliert fühlen; völlig erschöpft sein und nicht agieren können [GG]
Analyse der Bedeutung: Das Verb ‚begraben‘, im wortwörtlichen Sinne von ‚beerdigen, bestatten‘ sowie in seiner metaphorischen Bedeutung von ‚aufgeben, nicht mehr davon sprechen‘, weist im Ahd. die Form bigraban (8. Jh.) auf. Die mhd. Form begraben bezieht sich nicht nur auf ‚begraben‘, sondern zusätzlich auf ‚ziselieren, mit einem Grab umgeben‘. [Vgl. WPE: begraben].
Die sprichwörtliche Redensart (sich) (wie) lebendig begraben (fühlen) bzw. wie lebendig begraben sein leitet sich aus einer seit dem Altertum geläufige Hinrichtungsform, die im Mittelalter vor allem in Fällen von Kindsmord oder Unzucht sowohl an Männern als auch an Frauen vollstreckt wurde, ab [GG]. Wie etwa Plinius (Epistulae 4, 11) bereits überliefert, wurden Vestalinnen, wenn sie unkeusch waren, mit der Todesstrafe des Lebendigbegrabens (lat. vivum infodire, mhd. lebendigen, lebendigen begraben) bestraft [vgl. Klussmann 1869, S. 18]. Ab dem 13. Jh. liegen dazu rechtliche Aufzeichnungen gehäuft vor, die deren Anwendung zusätzlich bei Notzucht, Frauenraub sowie Ehebruch und seltener bei Diebstahl, Inzest, Sittlichkeitsdelikten oder generell als Frauenstrafe belegen. Was den konkreten Vollzug betrifft, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Zum einen wurde die verurteilte Person auf dem Rücken liegend in eine ausgehobene Grube neben dem Galgen gelegt und von den Beinen beginnend mit Erde bedeckt, die anschließend festgedrückt wurde. Zum anderen konnte die/der Verurteilte zusätzlich an den Beinen oder Knien beschwert oder fixiert oder in einen Sack gesteckt worden sein. Der Tod, der durch Ersticken herbeigeführt wurde, konnte als Strafverschärfung über ein zum Gesicht gelegtes Rohr hinausgezögert werden, wobei die Prozedur Stunden oder Tage umfassen konnte. Bei Ehebruch konnte im Sinne einer Spiegelstrafe ein Pfahl durch die beiden aufeinanderliegenden, begrabenen Ehebrecher geschlagen werden. Die Pfählung wurde als zusätzliche Strafe auch bei Sodomie und Notzucht verhängt, wobei der betrogenen Person oder dem Opfer die ersten drei Schläge zustanden. Dornengestrüpp konnte entweder als Unterlage für den Körper der Delinquentin/des Delinquenten fungieren, oder wurde über dem Grab aufgeschichtet. Anderen Thesen zufolge könne man durch die Pfählung, das verlegte Rohr, das aufgehäufte Dornengestrüpp oder anhand der möglichen Positionierung des Körpers mit dem Gesicht nach unten auf die mittelalterliche Angst der Wiederkehr schließen (vgl. dazu auch die Wendung ↑Henkersmahlzeit). Das Pfählen und die genannte Positionierung würden demnach eine leibliche Wiederkehr verhindern, das Rohr fungiere als Loch, durch welches die Seele ausfahren könne, und das aufgehäufte Gestrüpp würde diesem Sinne folgend ein Austreten aus dem Grabbereich erschweren. [Vgl. HRG-WS: Lebendig begraben; vgl. Ortner 2017, S. 38]. Bei weiblichem Diebstahl gab es als Pranger-Alternative die Option, die Delinquentin temporär lebendig zu begraben, wobei es sich hierbei um keine Todesstrafe handelt. Ab der Neuzeit wurde die Strafe des Lebendig-Begrabens sukzessive abgeschafft, wobei dies 1515 aufgrund der Verweigerung des Scharfrichters in Nürnberg bereits der Fall war. Während 1549 der letzte männliche Delinquent mit dieser Strafform gerichtet wurde, fand eine solche Hinrichtung an einer Frau im deutschsprachigen Raum zuletzt 1674 statt. Das Kieler Spruchkollegium verabschiedete das Lebendig-Begraben schließlich 1745 aus dem Strafgesetzbuch. [Vgl. HRG-WS: Lebendig begraben].
Wenn man sich wie lebendig begraben fühlt oder in gesteigerter Art und Weise sogar als lebendig begraben empfindet, bedeutet dies im metaphorischen Sinne, dass man sich vor dem Hintergrund des realhistorischen oder gegenwärtigen Bildes der zum Tode verurteilten begrabenen Person einerseits abgeschnitten sowie andererseits völlig handlungsunfähig und in einem absoluten Erschöpfungszustand sieht. [GG] -
Realienkundliches: Im Bayrischen Landfrieden des Jahres 1256 findet sich die Strafe des Lebendig-Begrabens bei Notzucht an einem Delinquenten vor:
(44. XXVII.) De violento coitu. Swen man ansprichet, daz er ein maget oder witwen oder ein ander wip, diu gutes liundes ist, genozogt hab, mag si selb funfte in des uberreden, man sol in lebenden begraben, er muge danne selb dritte daz bewarn, daz er ê mit ir willen bei ir gelegen si. [Weiland 1869, S. 600]
Nach der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bzw. dessen dt. Übersetzung sollen Kindsmörderinnen aus Abschreckungszwecken lebendig begraben und gepfählt werden, wenn dies öfter der Fall ist. Als gnädigere Hinrichtungsmethode gilt das Ertränken:
Straff der weiber so jre kinder tödten
cxxxj. ITem welches weib jre kind / das leben vnd glidmaß empfangen hett / heymlicher boßhafftiger williger weiß ertödtet / die werden gewonlich lebendig begraben vnnd gepfelt / Aber darinnen verzweiffelung zuuerhütten / mögen die selben übelthätterin inn welchem gericht die bequemlicheyt des wassers darzu vorhanden ist / ertrenckt werden. Wo aber solche übel offt geschehe / wollen wir die gemelten gewonheyt des vergrabens vnnd pfelens / vmb mer forcht willen / solcher boßhafftigen weiber auch zulassen / oder aber das vor dem erdrencken die übelthätterin mit glüenden zangen gerissen werde / alles nach radt der rechtuerstendigen. [Kaiser Karl V. 1533, cxxxj]
Semantische Prozesse: sprichwörtliche Redensart - Interlingual Kompatibles: engl.: to be buried alive [PONS] - Figuriertheit: Drastik; Hyperbel; Vergleich (wie lebendig begraben)
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lebendig begraben: jmdn. lebendig begraben
Umschreibung: jmdn. sehr schlecht behandeln, zugrunde richten; jmdn. durch minimale Versorgung gerade so am Leben lassen; vor sich hinvegetieren lassen [GG]
Analyse der Bedeutung: Zur Etymologie sowie zur historischen Analyse der Hinrichtungsart des Lebendig-Begrabens, auf welche die vorliegende Redensart zurückgeht, siehe die Wendung ↑(sich) (wie) lebendig begraben (fühlen) / wie lebendig begraben sein.
Begräbt man eine Person lebendig, so richtet man diese analog zum historischen Bild des Henkers und seiner Knechte, die die Erde über die verurteilte Person schütten und festtreten, psychisch und/oder physisch völlig zugrunde. [GG] - Realienkundliches: Zu Auszügen aus einzelnen Rechtswerken siehe die sprichwörtliche Redensart ↑(sich) (wie) lebendig begraben (fühlen) / wie lebendig begraben sein. - Semantische Prozesse: sprichwörtliche Redensart - Figuriertheit: Drastik; Hyperbel
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