Spießrutenlauf
Spießrutenlauf: Spießrutenlauf/Spießrutenlaufen
Umschreibung: neugieriges (und spöttisches) Angesehenwerden von Leuten, an denen jmd. vorbeigehen muss [eWDG: Spießrutenlaufen]; sich bei einem unangenehmen Gange von Neugierigen scharf und kritisch beobachtet wissen, wobei die zudringlichen und spöttisch-schadenfrohen Blicke von links und rechts beinahe schmerzhaft empfunden werden und die lieblosen ‚Stichelreden‘ der ‚spitzen Zungen‘ tatsächlich verwunden können. [ROE: Spießruten]
Analyse der Bedeutung: Das Femininum ‚Spießrute‘, das eine ‚spitze, lange biegsame Gerte‘ ab dem 16. Jh. beschreibt, wird im 17. Jh. auch als ‚Spitzrute‘ wiedergegeben und lässt sich sowohl als Reitgerte als auch als ‚Prügelgerte‘ für Soldaten identifizieren. Das Determinans ‚Spieß‘ lautet im Mhd. spiʒ (‚Brat-, Holzspieß, Splitter’), im Mnd. spit, im Mnl. spit oder spet, im Nl. spit, im Aengl. spitu, im Engl. spit, im Schwed. spett und basiert wie alle genannten Formen auf germ. *spita-, wobei, wie zu vermuten ist, die ie. Wurzel *(s)p(h)ē̌i-, *(s)p(h)ī̌- (‚spitz, spitzes Holzstück’) zugrunde liegt. Das Determinatum ‚Rute‘ als ‚langer, dünner Stock‘, ‚Zweig‘ oder ‚Gerte‘ wurzelt im ie. *rēt-, *rōt-, *rət- (‚Stange, Stamm, Balkengefüge’) und wird im Ahd. als ruota, im Mhd. als ruote, im Asächs. als rōda, im Mnd. als rōde oder rūde, im Mnl. und Nl. als roede, im Afries. als rōde und im Aengl. in der Form rōd realisiert. [Vgl. WPE: Rute].
Das Kompositum ‚Spießrutenlaufen‘ bildete sich im 18. Jh. heraus und war als entehrende Prügelstrafe, die bei besonders schweren Delikten wie Desertieren verhängt wurde, Teil des Militärstrafrechts ab der Frühen Neuzeit, wo sie auch unter dem Terminus ‚Gassenlaufen‘ bekannt war. Der verurteilte Soldat musste dabei mit nacktem Oberkörper einen Lauf durch eine Gasse, die von den übrigen Soldaten gebildet wurde, absolvieren. [Vgl. WPE: Spieß; vgl. HRG-HL: Militärstrafrecht; vgl. DRW-WA: Spießrutenlaufen]. Bereits in römischer Zeit ist diese Form der Strafe verbreitet, wobei jedoch mit Spießen so lange zugestochen wurde, bis die verurteilte Person ihren Verletzungen erlag. Erst im Zuge des Dreißigjährigen Krieges kamen spitze Ruten anstelle der Spieße zum Einsatz, mit welchen auf den Rücken der delinquenten Person eingeprügelt wurde. Während das Spießrutenlaufen in Preußen 1806 verboten wurde, fand diese Strafe in Österreich und Russland bis zur Mitte des 19. Jhs. weiterhin Anwendung. [Vgl. LDR: Spießruten].
Vor dem Hintergrund dieser besonderen Form der Körperstrafe wird im übertragenen Sinne unter einem Spießrutenlauf einerseits eine Situation verstanden, die ähnlich gestaltet ist, mit der Ausnahme, dass es scherzhaft gemeint ist und keine Rutenschläge ausgeteilt werden.
Andererseits können feindselige Blicke, denen man ausgesetzt ist, gemeint sein, die einen analog zu den Spießruten verletzen. [GG] - Entstehungszeit: 18./19. Jh. [WPE: Spieß]; 1850 [KUE I: Spießruten] -
Realienkundliches: Dem livländischen Landrecht von 1650 zufolge wird der Spießrutenlauf, der in der Quelle als ‚Spitzrutenlauf‘ oder ‚Gassenlauf‘ bezeichnet wird, ausschließlich an männlichen Personen bei Ehebruch verhängt und lässt folglich keinen militärischen Kontext erkennen. Ist der Mann verheiratet und kann sich finanziell oder durch Arbeit nicht freikaufen, muss er den ‚Spitzrutenlauf‘ sechsmal absolvieren. Eine verheiratete Frau wird im selben Fall mittels Rutenschlägen vor den Türen des Gerichts oder des Rathauses bestraft, wobei die Schläge durch die Bewohner des Ortes als Kollektivtat erfolgen. Handelt es sich um einen unverheirateten Mann, der über keine finanziellen oder arbeitstechnischen Mittel verfügt, wird über diesen ein viermaliger Gassenlauf verhängt. Eine unverheiratete sich in derselben Lage befindliche Frau erhält wiederum Rutenschläge vor den genannten Bauten. Bei Wiederholungsdelikten muss der verheiratete Mann den Spießrutenlauf neunmal erleiden. Geschieht der Ehebruch zum dritten Mal, hat der verheiratete Mann wiederum neun Spießrutenläufe zu erleiden und wird zusätzlich für sechs Jahre aus dem Ort verbannt:
§I.
Ueber einen einfachen Ehebruch, da die eine Perſon beheyrathet, und die andere unbeheyrathet iſt, moͤgen und ſollen die Haͤrads⸗Hoͤffdinge (Gebietsrichter) auff dem Lande, und Burgermeiſter und Raht in den Staͤdten, nach den gewoͤhnlichen Reſolutionen urtheilen, die vor dem von unſerm Koͤnigl. Hoff⸗Gerichte mitgetheilet worden, ſolchergeſtalt (naͤmlich) daſz die verheyrathete Perſon, wo es ein Mann iſt, 80 Dahler Silber⸗Müntz erlegen, oder, da er kein Geld zu geben hat, auch keine Arbeit vor ihm gefunden wird, ſechs mahl Spitzruhten lauffen ſoll; iſt es eine Weibes⸗Person, die beheyrathet, buͤſſet ſie ebenfalls 80 Dahler S. M., da ſich aber nichts findet, womit ſie die Geld⸗Straffe erlegen kann, auch keine Arbeit, dadurch dieſe Straffe ausgeſuͤhnet werden mag, ſo ſoll ſie vor der Raht⸗ oder Ting⸗ (Gerichts⸗) Stubenthuͤr mit Ruhten geſtrichen werden, doch nicht von dem Buͤttel oder Scharff⸗Ric[hter], ſondern von andern auff dem Lande oder in den Staͤdten dazu verordneten Perſonen. Der unverheyrathete, entweder Mann oder Weib giebet 40 Dahl. S. M.; haben ſie nicht die Geld⸗Straffe zu erlegen, oder keine Arbeit gefunden wird, so laͤufft die Manns⸗Perſon vier mahl Gaſſen⸗Lauff (Spitzruthen), das Weibs⸗Stuͤck (Weibsperſon) aber wird vor dem Ting⸗ (Gerichts⸗) oder Rath⸗Stubenthuͤr, ſo wie geſagt iſt, mit Ruhten geſtrichen. Kommt einer zum andernmahl wieder, ſo ſoll man die Straffe verdoppeln, und wenn er keine Geld⸗Buſſe zu erlegen vermag, ſo laͤufft der Beheyrathete neunmahl Gaſſen⸗Lauff. Kommt jemand aber zum drittenmmahl wieder, ſo ſoll drey doppelt gebuͤſſet werden; kann man das Geld nicht erlegen, ſo laͤufft der Verheirathete neunmahl die Gaſſe, und wird vom Gerichte des Landes und der Stadt auff ſechs Jahre verwieſen. Kommt einer zum vierdtenmahl, wird er am Leben geſtraffet, und das Urtheil ans Hoff⸗Gerichte zur ferneren Reſolution (zur Laͤuterung) remittiret (verſandt). [von Buddenbrock 1821, S. 242f.]
Diastratik: umgangssprachlich [eWDG: Spießrutenlaufen] - Interlingual Kompatibles: engl.: to run the gauntlet/gantlet [dict.cc] - Figuriertheit: Drastik; Hyperbel
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